derStandard: Interview mit Staatsrechtler Mithat Sancar

Posted on 29. Oktober 2012

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In einem Interview mit „derStandardd“ spricht der türkische Staatsrechtler Mithat Sancar über die Geburtswehen der neuen türkischen Verfassung.  Über die Religionsfreiheit sagt Sancar:

„Die Religionsfreiheit war und ist ein wichtiges Problem in der Türkei. Bis vor wenigen Jahren hatten ja selbst die sunnitischen Muslime keinen Anspruch auf freie Religionsausübung. Die Aleviten und nicht-muslimischen Gruppen waren allerdings seit Gründung der Republik stark benachteiligt. So wird den Aleviten ihre religiöse Identität abgesprochen, dennoch ist es bemerkenswert, dass eben jene eine einseitige Sympathie für die kemalistische Republik empfinden. Dennoch ist es für die Aleviten heute wichtig, dass im Zuge einer neuen Verfassung die türkische Religionsbehörde reformiert oder eben abgeschafft wird. Die Aleviten als größte religiöse Minderheit der Türkei müssen endlich anerkannt werden. Unter der AKP gab es kleine Schritte, die vor allem den christlichen Kirchen des Landes halfen, ehemals verstaatliche kirchliche Grundstücke wieder zu erwerben oder kirchliche Bildungseinrichtungen wieder zu öffnen. Auch offizielle Besuche bei Ministerpräsident Erdogan oder Staatspräsident Gül gehören zu dieser Öffnungspolitik. Die christlichen Gemeinden wurden sogar im Zuge der Vorbereitungsphase für die neue Verfassung gebeten ihre Wünsche und Ideen vorzutragen. Im Großen und Ganzen ist die Lage der sunnitischen Muslime besser geworden, die Lage der Aleviten ist leider gleich geblieben – generelle Religionsfreiheit fehlt hingegen völlig.“

Eine weitere Debatte innerhalb der neuen Verfassung ist die Definition der Nationalität. Bisher ist diese ethnisch als „Türke“ definiert. Vor allem kurdische Abgeordnete wünschen sich eine Definition über die territoriale Zugehörigkeit „aus der Türkei stammend“. Dazu Sancar:

„Es ist eine wichtige Diskussion, weil das Wort Türke im politischen Sprachgebrauch vorbelastet ist. Und die nicht-türkischen Volksgruppen, die in der Vergangenheit einem starken Assimilationsdruck ausgesetzt waren, sehen sich damit als benachteiligt an. Denn wenn die These zutrifft, so wie von Kemalisten und türkischen Nationalisten behauptet wird, der Begriff Türke sei kein ethnisch definierter, warum gibt es dann einzelne Gesetze in der Türkei, die dezidiert von türkischer Abstammung sprechen?“

Das vollständige Interview finden Sie hier.

Posted in: Alevitentum, Türkei